Erinnerung und Geschichte: Erzählen…und verstehen!

Probleme von heute, wirtschaftliche und soziale, gründen meist auf geschichtlichen Ereignissen. Probleme von heute können anders angehen werden, wenn man die Probleme von gestern kennt. Was erzählen uns die Schülerinnen Europas über die Vergangenheit?

Seit wann gibt es eigentlich die EU?
“Ungefähr nach dem Ersten Weltkrieg. Oder nach dem Zweiten.”
(Kitti, 17, Rumänien)

Und was ist Geschichte?
In Geschichte geht es nur um Kriege und Macht.
(Tore, 16, Schweden)

Falsche Fakten, eine reduzierende Sichtweise in der Gleichung: Geschichte ist Krieg. Von Verständnis kann kaum die Rede sein. Und dabei sollte Schule Geschichte als Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart lehren.

Sollte Geschichte in allen Ländern gleich angegangen werden? Ein gemeinsames Geschichtsprogramm für Europa also? Über diese viel diskutierte Idee sprach Eurolektionen mit einem engagierten schwedischen Lehrer, der die Bedeutung eines persönlichen Zugangs zur Geschichte unterstrich: erst wenn Schülerinnen die regionale, nationale Geschichte bekannt ist, kann der Blick auf generelle Zusammenhänge und eine mögliche europäische Geschichte gerichtet werden. Nein, das Streben nach einem gesamteuropäischen Geschichtsprogramm erscheint nicht sinnvoll.

Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus und die kommunistische Vergangenheit sind zwei Ereignisse, an denen sich Vergangenheit und Gegenwart begegnen. Es sind Ereignisse, die sich mit ihren Verständnissen kreuzen.

Erinnerung, nach Heiner Müller, bedarf immer eines Anstoßes: Sie geht von Schocks aus. Und nichts hat Erinnerung so nachhaltig in Gang gesetzt wie die Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts. Beinahe wäre die Vision Müllers in Die Hamletmaschine Realität geworden:

„Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa.“

(Müller 1988: 38)

Wo leistet Schule Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungsarbeit?

„Schattenort“, ein Projekt, an dem einige Schülerinnen des rumänischen Gymnasiums teilgenommen haben, versucht dies. Ziel des Projektes sollte sein, Orte wie das Reichsparteigelände in Nürnberg durch Kunst zu ändern. Schülerinnen interviewten ihre Großeltern in Brașov, versuchten sich in das Leben während des Zweiten Weltkrieges hineinzuversetzen und verarbeiteten dies in einem Theaterstück. “Schattenort” bewegte die Schülerinnen und steht gleichzeitig exemplarisch für den Umgang mit Erinnerung.
Was ist Erinnerung für die Schülerinnen, mit denen wir sprachen?

“Most things we know from the war was from TV and stuff that everybody knows, but when… somebody tells you something you can imagine, find yourself in the place and when you were there you know that, then it was real. I felt very sorry…”

(Alina, 16, Rumänien)

Did you hear something about the cruel things of the war before talking to old people?

„We heard something, but we didn’t know what it is all about. And when the old people told us we took this in serious.”

(Simona, 17, Rumänien)

Die Kommunikation zwischen den Epochen und Generationen bricht ab, sobald ein bestimmter Fundus von gemeinsamem Wissen abhanden gekommen ist. Unterschieden werden muss, laut dem Historiker Reinhart Koselleck (zitiert in Assman 2006: 14), zwischen gegenwärtiger Erinnerung der Überlebenden und reiner Vergangenheit, die sich der Erfahrung entzogen hat. Die aussterbende Erinnerung macht die Distanz nicht nur größer; die Erinnerung selbst verändert ihre Qualität: es sprechen allein die Akten, angereichert durch Bilder, Filme und Memoiren. Genauso erleben es die rumänischen Mädchen, die von der Geschichte ihrer Großeltern nur wenig wissen.

Erinnerung  steht, wie nie zuvor, in der öffentlichen Diskussion. Erinnerung wird beschworen um zu heilen, zu beschuldigen, zu rechtfertigen. Konflikte und Identifikationen hängen von Erinnerung ab.

Mickey Mouse in Moscow

Über die kommunistische Vergangenheit in Rumänien hören wir:

“There was more money.” (Diana, 18, Rumänien)
“There were not so many crimes.” (Oana, 17, Rumänien)
“Everybody had a job.” (Andrei, 16, Rumänien)
“It was easier.” (Laura, 17, Rumänien)

Die “guten alten Zeiten”. Die Erinnerung daran scheint in Rumänien sehr lebendig. Sie wird an die nächste Generation weitergegeben. Eine Generation, die nur das Leben nach 1989 kennt.

Rudimentäres Wissen über den Kommunismus, basierend auf informellen Quellen: Erzählungen von Eltern, Berichte in den Medien. Geschichtsbücher in rumänischen Schulen widmen dem Kommunismus nur wenige Seiten. Ein kohärentes Bild dieses wichtigen Teils der rumänischen Geschichte kann gar nicht erst entstehen. Wir laufen Gefahr uns von Nostalgie, fiktionalisierten Erinnerungen und Frustrationen über die gegenwärtige politische Situation beeinflussen zu lassen:

“The good thing about communism is that everybody could work. Now there are people that don’t have work. But there [under communism] – everybody had [work] and everybody had houses. They gave you work, they gave you houses, and then: survive.”
(Diana, 17, Rumänien)

Was hat sich geändert, nach 1989? Schulterzucken. Änderungen werden, wenn überhaupt, an alltäglichen Dingen wie rationiertem Brot ausgemacht. Damals waren alle zufrieden, hatten alle eine Arbeit. Dass keine Wahl der Arbeitsstelle bestand, wird ignoriert.

Im Transformationsprozess hat man gelernt zu vergessen. Vielleicht, weil die Erwartung schneller Veränderungen enttäuscht wurde. Und dabei stellt sich die Frage, ob nicht gerade nach außerordentlichen Systemumbrüchen  die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und politische Bildung unerlässlich sind.

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